Mai
„‚ok.‘
Nein, nichts ist ok. Nichts davon ist jemals ok.“ (16/5)
Ausblick auf ’13, pro Monat 2 Songs, Ausblick auf ’14
„‚ok.‘
Nein, nichts ist ok. Nichts davon ist jemals ok.“ (16/5)
Um die Kurve fährt die U2 mal wieder, rabiat. Der Bass in den Ohren: betäubend. Wie ich es auch meinem Vater schon sagte – Menschen mögen es, gesehen zu werden. Die schwarzen Löcher anderer sammeln sich in meinem Brustkorb, gelegentlich sind sie laut und sie scheppern wie Glaskugeln in einer Blechkiste. Da fühlt sich der Wurmfortsatz, der von meinem schwarzen Loch im Kopf übrig geblieben ist, nicht all zu allein.
Als würde man Leben zusammenklauben, als täte man nichts anderes. Weil es durch die Knochen geht. Metastasen im Bauchbereich, Gehirntumor, doppelter Herzinfarkt. Weil es gelegentlich nicht besser ist, zu wissen, was im Körper feststeckt. Wie die Borreliosebakterien, die wohl noch in meinem Rückenmark sitzen. Verbindungsstrang, man kappt so gerne altes, vernachlässigtes. Immer das Gefühl, man hätte etwas vergessen. Die Unruhe darüber, dass man sich nie zu zweihundert Prozent sicher sein kann. Die Komfortzone: ausgeweidet.
Leben auf einem Haufen und in blauen Müllsäcken. Darunter der Estrich, blank, nackt, kahl. Die Haut eines jeden Bodens, man kann Parallelen ziehen. Neben einem das rote Buch, in dem man täglich ankreuzt, was nicht immer in Wortform angegeben werden kann. Wenigstens blutet man sich wieder auf die Seiten. Der linke Arm schon eingeschlafen, weniger ist mehr. Kälte in den Fingern am Abend.
Zusammengefaltet wie eine Katze, auf inneren und äußeren Zuruf. Dann friert es sich nicht mehr ganz so leidenschaftlich. Am Morgen ist alles warm und brennt.
(Ólafur Arnalds – Happiness does not wait)
Irgendwas geht immer kaputt. Egal wobei. Sie sagt das voller Inbrunst, mindestens einmal pro Woche. Weißt du, genau deshalb rede ich nicht mehr mit ihr. Weil sie es seit mehr als fünfzig Jahren sagt, direkt zu mir seit ich geboren wurde, indirekt zu mir seit der Geburt meiner Mutter. Du weißt schon, das Aneurysma im Kopf und der Mann, der deswegen nie zurückkam, das kann ich alles verstehen. Jetzt nichts weiter als ein Abziehbild von ihr, da im Haus in der Nähe des Waldes und der Stadt, aber ich kenne noch nicht einmal ihren Schatten. Manche Orte funktionieren nur, wenn sie leer bleiben.
Eventuell liegt es an ihr, dass ich ständig Augen hinterherrenne, denn sie stechen immer noch durch mich hindurch, auch wenn der dazugehörige Körper schon längst weg ist. Weil die von ihr so unstet in der Farbe waren wie die meiner Mutter und die von mir. Abwechselnd kalt und warm. Das muss wohl die Tagesform sein. Dann sagt man mir du verunsicherst und ich will ihnen nicht mehr sagen müssen, dass ich Angst hatte vor Menschen, dass manches davon bleibt. Dass man sich durch sich selbst lebt und die anderen, ja, das ist normal. Aber vermutlich ist jeder so. Es muss keine Angst sein. Ich lache oft, wenn mir etwas unangenehm ist. Latente Unsicherheit, ich kann das verstehen, die steckt auch mir in den Knochen.
Auch kann ich nachvollziehen, wieso die normale Orthographie so laut ist, wieso man anfängt, klein zu schreiben. Man kann alles so angenehm einkreisen, wenn man sich die Mühe macht.
Man muss wissen wo die Orte sind. Die mit und die ohne Tiefenschärfe. Die, die nicht im Kopf sind. Die, die entweder bleiben oder reproduzierbar sind. Ich vermisse morgendliche und nachmittägliche Lichtstreifen auf meiner Wand. Hier tanzt gerade nichts, aber das ändert sich vielleicht mit den Jahreszeiten, sofern der Hinterhof nicht zu eng ist.
Und dann: fährst du mit mir ans Meer? Oder in die große Stadt, an der mein Herz immer so angenehm geblutet hat, da im Dreck der Themse?
Das kann man auch aus sich herausziehen wie Saiten aus einer Gitarre. Schon bei meiner Elektrischen habe ich mich am Stahl geschnitten, da war nie genug Hornhaut auf meinen Fingerkuppen. Im Nachhinein ist das wohl auch besser so, sonst hätte ich kaum gefühlt. Oder ich hätte so wenig an meine Haut herankommen lassen wie an meine Fersen: schon oft hatte ich die Vermutung, dass ich den Bezug zur Natur verloren habe. Den mussten meine Augen und meine Lungen mühsam wieder herstellen.
Dann sagst du mir, dass du in Fragmenten schreibst. Ich muss lächeln, weil es bekannt vorkommt und eben weil ich das so sage, füge ich in Gedanken an „das ist schon in Ordnung“. Generell gesprochen: alles ist in Ordnung. Die Zeit habe ich an mir vorbeirasen sehen, ebenso wie ich den Putz an der Wand gegenüber habe in Krümeln abfallen hören. So fein, dass es wohl niemand außer mir hören konnte. Dabei haben sie um uns doch alle nur geschrien. Zumindest rede ich mir das so ein. Weil es bequemer ist vielleicht.
Und wie das Grau Einzug gehalten hat, sich hineingefressen hat in die Landschaft – immer dunkler der Wald. Auf einmal leben nirgendwo mehr Menschen, eine Erinnerung an sie sind ihre hell beleuchteten Häuser, die, die der Nebel ebenso schluckt. Große Lagerhallen, in der Nähe die Lichtader: rot und weiß, gelb und weißblau.
Dann gibt es noch bestimmte Winkel, in denen sehen die weißen Lichter aus wie Gazellenbeine, produziert vom Abstand, der zwischen allem steckt.
Es gibt in Deutschland teilweise noch Ressentiments gegen an Depression erkrankte Menschen, mich regt das immer noch auf. In einer Dokumentation habe ich mal einen nun wieder genesenen Mann über seine Erkrankung sprechen hören, wie aus ihm schon zu Beginn herausbrach, dass die Aufarbeitung der Elemente, die zur Krankheit geführt haben, das Beste war, was ihm passieren konnte, dass er jetzt ein Mensch sei, der sich, im Gegensatz zu einigen anderen Menschen, sehr gut kennt. Dass er aber noch nicht einmal seinem ärgsten Feind wünschen würde, dieselbe Diagnose zu bekommen wie er. Dass man wohl zeitlebens, mindestens aber noch ein paar Jahre nach der Genesung ein Botschafter für den Umgang mit Depressiven bleibt. Ich könnte dem nicht noch mehr zustimmen als ohnehin schon. Und da ist es doch wieder wie bei anderen Krankheiten – wenn man etwas mal durchlebt hat, ist es trotz allem nicht komplett aus dem Körper heraus. Vor allem bei psychischen Erkrankungen, so zumindest mein Gefühl, muss man immer noch erklären, rechtfertigen oder sich verteidigen.
Man bleibt wohl zeitlebens Botschafter für seine Variante der Erkrankung. Man hat ein Bewusstsein dafür, dass Rückfälle geschehen können, aber man wartet nicht auf sie. Gelegentlich weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll, wenn man mich fragt, was zu tun ist. Ich bin kein Therapeut, ich kann nur sagen, was mir geholfen hat. Dazu muss man sagen, dass ich fast zehn Jahre lang daran gescheitert bin, herauszufinden, was das eigentlich ist.
Dann sind da noch die Leute, die proklamieren, man wäre, weil man etwas überwunden hat, immer noch ein verrückter Mensch, jemand mit Vorbelastung. An dieser Stelle mag mir ein Vergleich erlaubt sein – hat man nach einem erfolgreich verheilten Knochenbruch immer noch einen gebrochenen Knochen? Hat man nach einer erfolgreichen Heilung nicht auch da wieder die Möglichkeit, sich den Knochen an der gleichen, gar an derselben Stelle zu brechen? Und woher kommt es, dass sich manche Menschen so merkwürdig von Narben angezogen fühlen? Das weiter auszuführen, würde zu weit gehen.
Wenn ich hier und dort noch darüber schreibe, wie es mir erging oder wie es sich jetzt anfühlt, dann mache ich nichts anderes, als meine Narben zu beschreiben. Sie sind noch vergleichsweise frisch – sicherlich fällt man von Zeit zu Zeit noch in alte Muster zurück – und ziemlich wetterempfindlich, aber es gibt nichts besseres, als zu spüren, wie weich diese neue Haut ist. Ich muss sie eben nur öfter eincremen als die alte.
Wenn ich dir dann sage, dass ich das nicht so meinte, wirst du trotzdem mit dem Kopf schütteln. Du wirst mich fragen, ob das, was ich da sagte, ernst gemeint war. Bejahen werde ich deine Frage, womöglich wird daran noch ein altmodisches Fremdwort gehängt oder ein schlechter Scherz. Ausdruck meiner Unsicherheit.
Du wirst das an manchen Tagen verstehen, an anderen Tagen wird mein schnelles gedankliches Hin- und Herspringen unerklärlich bleiben. Auch das ist in Ordnung. Mir wird es mit dir genauso gehen.
Ich bin mir nicht sicher, ob du an manchen Tagen in meine Haut kriechen magst, weil sie dich wärmt und anzieht und sie manche deiner Zwischenräume füllt oder ob du einfach nur nicht allein sein willst. Egal, was du sagen wirst dazu: es ist ok. Manchmal mag ich mich nicht, ebenso wie du dich manchmal nicht magst: man lebt damit. Man muss nur lernen, dass man auch das aussprechen darf, laut.
Dann muss ich dir sagen: ich glaube, dass das Ausbluten hier doch einen Sinn haben kann.
Wenn man lange genug hinsieht, spürt man das Licht flackern. Nichts davon war jemals von Bedeutung. Keine Handschrift, keine Filme, keine Worte.
Zeig mir bitte keine Bilder mehr von der anderen Stadt. Ich könnte trotz allem versuchen, wegzulaufen.
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030113 (Retrospektive):
Vater war da. Man sieht, dass er Schwierigkeiten damit hat, mich hier zu besuchen. Auf einmal wird das greifbar für ihn, glaube ich, was er seit Monaten nur so halb mitbekommen hat. Er sagte, sein Vater war zwei Mal in einer Psychiatrie, aber das war in der DDR und wegen dessen Alkoholsucht. Ich glaube, dass ihn es sehr geschockt hat, ihn dort zu sehen, der Mann, der sein Leben kaputtgemacht hat, jetzt ganz kaputt. So schlimm es klingt, ich bin sehr froh, ihn nicht mehr kennengelernt haben zu müssen, ich weiß vor allem nach dem Aufenthalt hier nicht, wie ich ihm begegnen sollte. Alle Alkoholiker hier sind, gut, dank Tabletten etc. pp, die wehrlosesten, schutzlosesten Etwasse, die mir je begegnet sind. Schutzlos, da ohne den Alkohol, wehrlos, da sie immer noch glauben, sie hätten nichts falsch gemacht.
Die Frau eines der Erkrankten kommt täglich, sie sitzen hinten in der Ecke, wo sonst die Frau sitzt, die immer so still ist und kein Wort sagt und immer auf ihre Hände starrt und sie sagen immer wieder dasselbe. Ich hab dich doch so lieb, alles wird gut, aber du hast mir so böse Worte gesagt, ich weiß, dass du die nicht so meinst. Dann denke ich an so manchen Domian Anruf und dass man sich irgendwann von Menschen zurückziehen muss, wenn sie einem nicht mehr gut tun und dann frage ich mich, inwieweit man das auf mich münzen kann, denn das Vergangene tut mir nicht gut, tut mir weh, aber irgendwie… ebbt alles so langsam, so sehr sehr langsam ab. Ich kann mich nur einmal totkämpfen, der Aufenthalt hier sollte mir eigentlich eine Lehre sein.