Lessons Learned

Stell dir vor, du wärst ein Schiff mit Pomp und Gloria. Und du würdest es gerade mal auf 1,3km zurückgelegte Strecke schaffen bevor du sinkst. So muss es sich anfühlen, wenn du Meeresböden liebst. 

So etwas passiert nur ein einziges Mal.

Heute: ich sehe deinen Namen und denke – mittlerweile – an jemand anderen, chronischerweise, allgemein gesagt.

(Matt & Kim – Lessons Learned)

marks to prove it

Die Kopfhörer bewusst abgelegt, Musik aus, Ohren an, jetzt erst fällt mir ein ohrenbetäubender Tinnitus auf, er schlummert wohl schon länger in an gegenüberliegenden Orten in meinem Kopf.  Dem wiederum gegenüber gestellt: diese ganz besondere Stille, die die Großstadt verströmt, wenn man sich zugesteht, dass man in ihrer Falle sitzt wie eine Fliege im Spinnennetz. Die Treppen auf dem Weg zum Licht, früher Zweck eines Aufatmens, jetzt Erlösung und Last zugleich – eventuell ist in entfernter Zeit eine Art der Indifferenz möglich. Ich bemühe mich, den an mir Vorbeigehenden nicht in die Augen zu sehen, nicht in ihre Gesichter, nur noch schemenhaft zumeist dunkle oder exorbitant strahlende Kleidung wahrzunehmen. Es klappt ganz gut, viele sehen mich ebenso nicht, wir laufen weder ineinander hinein noch kommen wir uns im Ansatz in die Quere. Nur keinerlei Berührung stiften. Die halbstarken Jungen, unter ihnen garantiert auch Männer, die sich vor den Hauseingängen sammeln, verschwimmen zu einer Masse, die sich an die Backsteinwand hinter ihnen angleicht. Vielleicht geht es ihnen mit mir ebenso, ich werde zum Poller, der ein paar Meter vor ihnen in die gepflasterte Erde gerammt ist. Manchmal fahren sie gegen ihn mit ihren schweren Autos, jagen sich johlend über die Breite des Straßenzugs und werfen sich gegen diesen Poller, sitzen und lachen und beobachten und sprechen. Leben, wie diese Poller, da angeordnet im Viereck, in Stahl gegossen, aneinander vorbei.

Im Supermarkt, wie auch im Künstlerbedarf ein paar Minuten zuvor, stehen Kinder und schreien nach ihren Müttern, laufen wild durch Beine, die für sie wie die von Riesen wirken müssen. Laufen in mich hinein und sehen mich dabei noch weniger als die Fremden vor der Tür, die sich nur den Raum der Gehsteige mit mir teilen. Nie lernt man aus den Erfahrungen vorangegangener Besuche, jedes Mal gefangen in irgendeinem Trip, einem persönlichen oder beruflichen. Schienen, gerade, nebeneinander, parallel, und Impulse, die wie Ratten und Mäuse in den U-Bahn-Schächten den Weg kreuzen. Irgendetwas fehlt.

Der Weg nach Hause, diesmal alles leer. Im Café an der Ecke sitzen ein paar Leute und lesen, am liebsten würde ich mich zu ihnen setzen, nichts sagen, mich einfach nur hinsetzen und lesen. Vielleicht schreiben wie im Rausch, dann ein Vorwand, der es mir ermöglicht, „da“ zu sein und mich gleichzeitig einem Zugriff zu entziehen. Schutzzonen innerhalb und außerhalb. Zwanzig Meter weiter rennt ein Mann gen Pentagon-Sitzbank auf der kleinen Freifläche an der Kreuzung, er hält einen blauen Plastikstuhl für Kinder und schaut mich dabei fragend an. Ein paar Sekunden möchte ich mit ihm mitrennen, aber mir tut der Kopf weh und ich hasse es, wenn man mich rennen sieht, auch, weil der Atem fehlt. Ich bleibe stehen, er verschwimmt wieder zu der grauen Jacke, die er anhat, wird immer schemenhafter und rennt weiter, am Ende höre ich nur noch seine übertrieben lauten Schuhe, eventuell hat er den falschen Absatz vom Schuster an seine Schuhe machen lassen.

Ein kurzer Impuls noch, dann ist alles in mir still. Es ist in Ordnung. Es gibt nichts, wegen dem ich mich beeilen müsste.

no one was crying
they simply got a little something in their eye
no one was lonely
they just could not get hold of anybody
over the summer, a lot changed
and they all changed to keep up with it
too complicated
too complex to talk to anybody

(The Maccabees – Marks To Prove It)

Fast Lane

An mir vorbei die Bahn ohne Brandenburger Tor in hundertfacher Ausfertigung, ruhig, abgestanden leer. Das Brennen in den Dingen drin und die Asche, die es hinterlässt, zu oft hat niemand darüber gesprochen. Das sind Eisbrecher, diese Tieraugen, wie er mit ihnen spricht und die Erkenntnis, dass wir bei alledem immer noch selbst Tiere sind, geblieben sind, nie etwas anderes waren. Der Fluch des Gefühls der Superiorität und der Schlag in den Nacken, der darauf folgt, lehnt man sich zu weit aus dem Fenster.
War ich selbst etwa eine von Droste-Hülshoff, habe ich selbst immer auf den See gestarrt, habe ich selbst geschrieben, schreiben wollen über alles und von allem das, was am tiefsten in den Fasern steckt?

Hätte mich gerne mit mehr Menschen, Helden von mir, unterhalten über ihren Schmerz und mein kaputtes Bauchgefühl. In weniger als einem halben Jahr werde ich achtundzwanzig und bin im Gefühl stehengeblieben. Da, in dem großen Raum mit den vielen Leuten, sagte er: es braucht Zeit, Gefühle haben eine Zeit. 
Das hier ist ein Requiem für etwas, irgendetwas. Es hätte wichtig sein können. (Ich rede mir einfach weiter ein, dass ich nichts fühlen kann.)

it’s been twenty-seven years
and you’ve only now just figured out how

(Rationale – Fast Lane)

Porcelain

Du bist neu hier, du möchtest dich nicht mehr erklären müssen, nicht wieder, nicht weiter, nie mehr. Das geht alles vorbei, ungesehen, das ist schließlich keine Steuererklärung, kein Aufsatz, mit dem man sich beschäftigen muss. Du meidest, bis sich jegliche Regung aus deinen Knochen pult. Da ist Schlangenhaut, du hast sie abgelegt, dich aus ihr heraus befreit, sie geht dich nichts mehr an. In deinem Bauch rumort noch die letzte Mahlzeit, die du in deiner alten Form zu dir genommen hast.

Nein. 

An deinem Körper zeichnen sich die Jahreszeiten ab wie Ebbe und Flut, im Gesicht, am Hals das „zu viel“, darunter das „zu wenig“, auf dem Rücken, als wäre es ein schlechter Scherz eines Panzers, Stretchmarks. Es könnte auch Rinde sein, darunter Jahresringe, in dir drin ein Baum. 
Früher hätte ich dir vom wilden Schlag meines Herzens erzählt, mittlerweile ist dieser das wilde Klopfen meines Kopfes, deshalb gehe ich ihn zwei Mal in der Woche ausschütten, in einen Ledersessel, einen Notizblock und zwei fremde Ohren. Wo fließt du hin, wenn du überläufst? Meine, deine, diese Spuren von irgendetwas anderem, irgendjemand anderem.

we’re reflections in white washed glass
faces replaced

(Kraków Loves Adana – Porcelain)

Trouble

Laufen deine 5-HT-Rezeptoren noch immer so häufig Amok? Spürst du endlich einmal die Beule, die unter deiner Haut wächst? Hast du dich beschäftigt mit den Auswirkungen deiner Lethargie? Zählst du die Gegenstände, die ich bei dir vergessen habe?

Hauptsache hier, Hauptsache du; dann kommst du her und musst feststellen, dass alle, die geblieben sind, auch einfach nur weitergelebt haben, gut weitergelebt haben, ohne dich und Hilfe und Zuspruch. Denn das ist ja gerade das Perfide in den, deinen, diesen Gedanken, denn nichts hört einfach so auf, alles geht weiter, alles im Flux, oh, als gäbe es die Ausnahmen nur für dich allein.

you keep closing doors
so I can’t help you no more
your thoughts, so confined
a maze of your own design

(Robots Don’t Sleep – Trouble)

New Skin

Es war Grau und die Stille nicht wert
– 1

Deine Moleküle sind tausende von Jahren alt.

Hinter deinen Augenlidern liegen deine Augenringe, Flecken, hochgewandert, möglicherweise auch nur wieder Libellenhaut, eventuell aber doch die Manifestation des Problems, dass du deine Augen nie ganz, komplett, vollkommen schließen kannst. Dass du immer mindestens dein Blut, deine Haut, eine Schicht sehen kannst, dass du nie ganz in Schwarz bist, vielleicht doch nur 256 Varianten Grau und Rot.
Dann lachst du, ich bestarre meine Haut im Spiegel, sehe die Spuren von Sonne, Melaninüberproduktion, kleinen Viren, sehe Narben, die zu Falten wurden, aus der Mitte entspringt ein Fluß, niemand weiß das besser als du und ich und ich sehe die Formen abgebildet in meinem Gesicht. Das ist fast besser als die Naturaufnahmen der BBC Dokumentationen, Vulkankrater finden sich auf den Wangen und der Stirn, flußdeltaartige Verästelungen um die Augen, von Lava hinterlassene Schluchten in Bergen finden sich in den Mundwinkeln wieder. Dazwischen der Marianengraben.
Einmal Luft schlucken, dann wird sie Teil des Körpers, an jedem Ort mindestens einen Mund voll unsichtbare Umgebung essen, möglicherweise kommt dann doch alles an in den Augen, frisst von innen, nicht von außen.

Du hängst an der Haltestelle des Zuges als würdest du dich festkrallen mit den Klauen eines Faultieres, würdest hängen und nicht stehen, mehr Erläuterung bedarf es nicht. In den Bussen stehst du dann, eingekeilt, zwischen den einzelnen Etagen, damit du deinen Hals nicht beugen musst. Da drüben hängen Bilder ihrer Kinder an den Satellitenschüsseln, mindestens zehn pro Stockwerk, meist mehr, mittlerweile alternierend mit Bildern von Sonnenblumen, der eine neidet, der andere fotografiert. Ich frage mich, wer sie, wer wir sind, dass wir uns über sie stellen. 

Der eine oder andere Körper hält eine alte Seele fest, versteinerte Traumata oder fehlende Spiegelung und dann biegt die erste U-Bahn auf die Schienen des Viaduktes und lehnt sich ein wenig in die Kurve. Es quietscht und rumpelt, als wären Murmeln in deinem Brustkorb; du siehst dieselbe Silhouette an Häusern und weißt darum und fühlst nichts und manchmal noch hasse ich dich dafür.

„Es ist doch eigentlich alles ganz einfach,“ sage ich ihm, „jedes menschliche Lebewesen strebt nach Liebe, in welcher Form auch immer: Zuwendung, romantische Liebe, Anerkennung, Gespiegelt-werden, Gesehen-werden, Wertschätzung. Und dann kommt der ganze andere merkwürdige Mist.“ Während ich das Rapsfeld-Landschaftsbild an der Wand gegenüber anstarre und es zurückstarrt, sagt er „und das Wort merkwürdig streichen wir aus Ihrem Wortschatz.“

Ich habe mir ein paar Fotos ausgedruckt, vier Varianten Überhang, einmal Mitte, mittig, man kann uns alle lachen sehen. Dann gehe ich in den Supermarkt um die Ecke, den, in dem ich die meisten Kassierer mit Namen kenne und sie sich immer noch darüber wundern, dass man so viele Payback-Punkte in einer Lebenszeit gesammelt haben kann, wie sie dann zueinander raunen und ich ihnen sage, dass das nur geht im Familienverbund. Sie haben mir nicht einmal wirklich zugehört. Dann den Einkauf von der Ablage in den Beutel an die linke Hand in die Ellenbogenbeuge hieven, Schritte nach Hause, Ampelschaltung voller Widersprüche. 

Deine Pupillen sind unterschiedlich groß und das Grün in ihnen unterschiedlich tief. Sobald Licht darauf fällt, läufst du schnell, schneller als dich deine Beine eigentlich tragen können. Antilopen-Beine, wilde Beine. Deine Angst ist keine Makulatur, sie ist die vernarbte Haut, von der du befürchtest, sie könnte bei jeder unüberlegten Bewegung wieder aufreißen. Du hast sie schlecht zusammengenäht.

lay off me, would you
I’m just trying to take this new skin for a spin

(Torres – New Skin)

Jubilee Street

Sketchbook, Oktober 2015

Hinter der Windschutzscheibe, auf dem Armaturenbrett steht ein kleiner Blumentopf, aus dem halb vertrocknete Kakteen ragen. Du sagst Macht, ich sage Ohnmacht, da kommt die nächste Panikattacke wie ein Tsunami auf mich zugerollt. Passieren lassen. Einatmen. Ausatmen.

I got love in my tummy
and a tiny little pain
and a ten ton catastrophe
on a sixty pound chain

(Nick Cave & The Bad Seeds – Jubilee Street)

Horse & I (Hedwig)

Hedwig (später)

Sich annähern in Bahnen, Kreisen. Sie sagen, es wird sich ändern. Nach vier vollgeschriebenen Notizbüchern kann ich ihnen zustimmen. In ihnen ist alles von „ich fühle zu viel“ über „ich fühle nichts mehr“ zu „ich weiß nicht, was genau ich fühlen kann“. Stehengeblieben bin ich bei „ich fühle zu viel, aber was genau, keine Ahnung“.

Und ich würde dir gern sagen, wie genau man überlebt, aber ich weiß es nicht. Sie hat mich behutsam aufgehoben und mir Krücken an die Hände gegeben, da an diesem merkwürdigen Montagmorgen mit dem bitteren Geschmack von Medikamenten und einer halben Stunde Schlaf und zwei Tage später, da bei Hedwig und der Oberschwester.
Stattdessen würde ich dir sagen, dass es dauert und dass das gut ist und dass du an manchen Tagen nicht weißt, wer du bist, ob du sein willst und dass auch das dazugehört. Du schälst dich durch dich hindurch und mäanderst, schlägst keinen geraden Weg. Da warten Sinuskurven auf dich, maximale Ausschläge nach unten und stetig wachsende Ausschläge nach oben. Auch warten Enttäuschungen auf dich und Menschen, die dich verlassen werden, weil du du bist und gleichzeitig nichts von dem, was du „davor“ warst. Vor allem aber sind da die Menschen, die bleiben und dir beibringen, wie du sanft zu dir sein darfst – an sie solltest du dich halten (sie lieben dich und du solltest an sie glauben). Du wirst sie erkennen, sehr schnell. 

Ultimativ würde ich dir aber sagen: eine Krankheit, genauer: eine psychische Erkrankung, wie bei mir eine Depression mit Suizidversuch – nichts davon ist ein Makel. Du bist kein Makel. Du darfst dich an Anderen festhalten, um mit ihnen Hilfe für dich zu suchen. Es wird besser, wenn auch sehr langsam.

there is no turning back
(Bat For Lashes – Horse and I)