vor ungefähr einem jahr überhörte ich ein gespräch meiner eltern. das ist meist sehr leicht, denn mein zimmer ist im haus meiner eltern im untergeschoss – und da ich diese merkwürdige angewohnheit habe, in diesem haus viel im dunklen zu machen (treppen steigen, duschen, schuhe & jacke anziehen), hört man viele sachen, von denen andere denken, man hat sie nicht mitbekommen. als ich dann auf den treppenabsatz des erdgeschosses kam, hörte ich, wie sie sich angeregt über brustkrebs unterhielten. ich blieb stehen, umklammerte mein handtuch – ich wollte gerade im dunklen duschen gehen – und hörte weiter zu. es hat mehr als drei wochen gedauert, bis mir gesagt wurde, dass meine mutter am nächsten tag ins krankenhaus gehen würde um eine zyste in ihrer brust entfernen zu lassen. all die zeit hatte ich nicht nachgefragt, vor allem, weil meine eltern darum bemüht waren, sich nichts anmerken zu lassen. zwar fiel mir auf, dass ihre beziehung intensiver war als ich es bisher erlebt hatte, aber meine mutter war zum einen noch in ihrem typischen trott, ich hatte zum anderen viel zu tun mit jobsuche, wohnungssuche und dem allgemeinen gemütszustand. als sie es mir aber mitteilten, also offiziell, war das ganze bild, das ich hatte, am zerbrechen. und ich selbst in einer schizophrenen lage. ich hatte beschlossen, für meine mutter da zu sein, sie im krankenhaus zu besuchen, ihr zu helfen so gut ich kann, während es mir innerlich immer elender ging, weil mich die nähe zu ihr kaputtmachte. jetzt habe ich auf ewig diese bilder von ihr in meinem kopf, wie sie sich kaum bewegen konnte, einen schlauch in ihrer brust, damit blut ablaufen kann (ich kann kein blut sehen, war unangenehm), schmerzverzogenes gesicht, weiße thrombosestrümpfe und der geruch von krankenhaus.
da dachte ich mir – wie krank ist das eigentlich, dass man manchmal auf dem krankenhausgelände spazieren geht, während in den häusern um einen herum menschen sterben?
ich habe sie zwei mal besucht, einmal mit und einmal ohne meinen vater. jedes mal schickte sie mich in die caféteria, um kuchen zu holen. dann sagte sie, ich sei jetzt eine risikopatientin und dass sie ihr leben ändern wolle. ihr leben um die arbeit herum wichtiger machen, mehr auf sich achten, mehr reden, die dinge nicht mehr so ernst nehmen.
dann bin ich ausgezogen, meine mutter war bei meinem vater zu hause, dann fuhren sie in den urlaub, dann ging es zur bestrahlung und dann zur reha. dabei hatte sie noch glück und alles wurde frühzeitig erkannt. sie war auf gutem weg, bald wieder arbeiten gehen zu können, dann hatte sie einen unfassbar unwirklichen unfall und brach sich beim dünger streuen auf der wiese das handgelenk. hinhaltetaktik in der notaufnahme des krankenhauses. mein vater hatte mich angerufen und am telefon einen nervenzusammenbruch. ich hatte ihn noch nie weinen gehört, aber er hörte sich an wie ein gebrochener mann; das machte mir sehr zu schaffen. wochen später hatte meine mutter dann doch eine op. ich kam sie ein paar mal besuchen. ich wurde wieder zum kuchen holen geschickt. wir sind oft zusammen spazieren gegangen, ich fotografierte sie und das krankenhausgelände und sagte ihr dann, dass ich mich schuldig gefühlt hatte, weil ich ihre krebserkrankung insofern als positiv betrachtete, weil es uns hat annähern lassen. sie nickte und sagte, dass das ihr leben positiv verändert hatte. nach ein paar tagen war sie wieder aus dem krankenhaus heraus. nach einiger zeit bemerkten wir, dass sich ihre hand nicht besserte. morbus sudeck. als hätten wir das noch gebraucht.
mittlerweile arbeitet sie wieder und ist in ihrem alten trott zurück. behandelt mich wie vorher auch, trampelt auf mir herum, wenn es ein schlimmer tag ist, ist nett zu mir, wenn es ein guter tag ist und mein vater sie manchmal fragt, wieso sie eigentlich so gemein zu mir ist. und ich habe immer mehr eigene probleme, gespeist aus dieser schizophrenen situation, dem schizophrenen letzten jahr; ich komme nicht damit zurecht, langsam zu sehen, wie der verfall bei meiner großmutter immer deutlicher wird und bei meinen eltern irgendwann einsetzt. ich habe 2011 so oft wie nie meinen vater sagen hören, dass er nicht vor meiner mutter sterben will. und dass er seine frau und seine kinder liebt und ihm alles andere egal ist. und ich bin dieser schreckliche mensch, der sich immer wieder in die situationen bringt, die ihn kaputtmachen. ein kind liebt seine eltern, egal wie emotional kalt sie auch sind, das ist einem eingeimpft. ich habe meinem vater gesagt, wie es mir im allgemeinen geht. ich habe nur keine ahnung, wie ich das meiner mutter mal beibringen soll, denn ich denke da an sätze zurück, die sie sagte, als wir im krankenhaus an der psychiatrischen abteilung vorbeigingen. aber: wunden am fleisch und den knochen kann man operieren, wunden im herzen kaum bis gar nicht.