Letzte Nacht, dreiuhrvierundzwanzig.
Ich ziehe eine Fratze aus Tränen hinter mir her, eine, die ich noch nicht einmal dokumentieren mag. Ich ziehe und ziehe und manchmal schiebe ich auch, fast immer aber zerrt sie mich auf Augenhöhe – nach unten. Die Nuancen sind fließend zwischen aufgestauter Wut und Enttäuschung, gemäßigter Ernüchterung und unwirklicher Leere. In Gedanken schreibe ich Briefe an Freunde, die ich einmal hatte, an die, die die Fratze mich hat verletzen und nicht mehr sehen lassen. Momente, die wehtun, die einzig ungerade Zahl am Tisch, sonst überall Harmonie. Es ist wohl zu spät für Worte und ich könnte das auch verstehen, es gehören immer zwei Seiten dazu, ich bin schließlich die mit dem Problem. Ich weiß noch, wie ich B eine Ausgabe von „Nichts als Gespenster“ von Judith Hermann zum Geburtstag schenkte und auf die erste Seite nach dem Einband, dort, wo eigentlich ex libris zu finden sind, schrieb: Auf dass wir noch viele Gespenster miteinander teilen können. Fast zwei Jahre später ein Intermezzo-Treffen im Bus, sie hat gehört, wo ich arbeite, ich weiß nicht genau, was ihre Reaktion sein soll. Sie ist wieder in der gleichen Stadt wie ich, ich sage ihr, dass wir mal wieder etwas zusammen machen sollten, dass ich mich melde, ich tue es nie. Eine fremde Person, eine, die ich mal kannte, eine mit der mich im Jetzt nichts verbindet. Mich hat das Intermezzo sehr traurig gemacht, ob es ihr unangenehm war, weiß ich bis heute nicht, sie allerdings hat sich auch nie gemeldet; ich glaube, die Entfremdung gab es auf beiden Seiten.
Sie reißen alles ab, was mich mal mit meinem alten Freundeskreis verbunden hat, der Proberaum der Band, eine alte Garage, existiert nicht mehr, auf dem Platz wo sie stand, gibt es jetzt eine Discounterfiliale. Plattgewalzt, wie das, wofür der Ort für mich mal stand. F und M und S, all das war einmal, auch sie kenne ich kaum, F lebt sein Leben in einem anderen Land. Als er über das neue Jahr hier war, war man auch nicht interessant genug, eigentlich ist man es nie. Wer kann es ihnen auch verdenken.
Filme von und mit Menschen, die einsam sind, die schnurrende Katze auf deren Arm, im Hintergrund nichts als ein Rauschen. Selbstisolation scheint das einzig Richtige zu sein, da kann man niemanden verlieren, da kann man nichts machen, was andere einem vorhalten können, da muss man sich nicht für seine Fratze schämen.
Es verzerrt mir sogar die Finger, macht mir den Atem kurz, das Kissen salzig und die Bettdecke kalt. Neben mir ein eisiger Wind, ich liege Seite an Seite mit ihm, er fasst mir konstant an die Schulterblätter, meine Lippen brennen; mir ist nicht heiß, ich ersticke nur.
Und wenn das alles immer und immer wieder kommt? Wenn soetwas vererbbar ist? Wenn man all dem letztlich doch nicht entfliehen kann? Lebenslange Embryonalstellung im Schlaf, ich mache mich klein, so klein, bis mich niemand mehr sehen kann. Als hätte man das schon geahnt. Ich will hier nicht sein, muss wieder an das denken, was die Auswerterin gesagt hatte, ich finde aber keinen Platz, „Kein Ort. Nirgends“. Ich kann auch nicht stark für andere sein, wie auch, wenn ich es noch nichtmal für mich selber sein kann. Dann denke ich an Ödön von Horváth und dessen Tod. „Jugend ohne Gott“, eine Verfilmung steht im Raum, am Tag der Gespräche wird Horváth mit 37 Jahren in Paris von einem Ast erschlagen. Ich warte darauf, dass aus dem dritten Stock ein Blumentopf auf mich fällt, wenn ich auf Arbeit gehe.
Und dann wieder: ich fühle nichts. Rein gar nichts. Wieso hat man mich in diese Welt geboren, wenn ich gar nicht hier sein will?
Kurzum; Ich glaube nicht, dass ich so glücklich sein kann wie andere Menschen. Daran wird auch eine Therapie nichts ändern.
Deine Beine tragen dich nicht wie sie sollten
So oft gehen die, die noch nicht weggehen wollten
Und ich weiß, ich weiß, und ich ertrage es nicht