ich will für mich nüchtern bleiben
Elegie.
Vielleicht sind das nicht nur die selbstauferlegten Schranken, vielleicht sind das auch die Chancen, die funkeln, nicht nur für einen selbst sondern eben auch für Andere, mehr oder weniger gleichmäßig. Als würde man vor Anderen stehen, sie berühren können und trotzdem rutscht man an der Frischhaltefolie um sie herum ab.
Ich weiß, welche seine Orte sind und ich weiß, welchen Preis ich dafür zahlte – meine emotionale, meine intellektuelle, meine ganz persönliche Freiheit. Nie wieder einem Menschen, nie wieder einem Wesen mit Leidenschaft begegnen, so die Schlussfolgerung damals, nur noch Dingen. Nicht mein Fokus.
Neues Kapitel, neue Seite, weiß, frisch, nicht zu Tode geweißt, nicht mit Säure versetzt. Nicht vergilbt, keine Schandtaten alter Zeiten ins Papier eingelassen. Weißt du, ich sehe das immer so sehr in den Rillen, in denen, die man erst dann sehen kann, wenn man ganz nah mit dem Auge an die Oberfläche geht. So, als könnte man beinahe schon anfangen zu atmen, obwohl man gerade noch den Kopf unter Wasser hält. Ich wollte doch nur auch mal am relevantesten sein, damals, die Kommentare nicht erst alphabetisch sortieren müssen um zu wissen, wer ich wirklich bin. Nein.
Neuer Atemzug. Ich möchte nicht mehr von der Freiheit erzählen, die ich eingebüßt, ich möchte von der erzählen, die ich gewonnen habe. Lange habe ich an ihr gefeilt und lange habe ich mich von ihr ferngehalten, denn sie zerstört mein bisheriges Muster, mein Wertesystem. Sie fährt durch das hindurch, was mich ausgemacht hat, ein paar Jahre, mindestens aber ein paar Sommer oder Frühjahre lang.
Retrospektive.
Du bist in einem Krankenhaus und schreibst deine Abschiedsbriefe. Per Hand. Andere können sie sehen, aber sie sagen nichts dazu. Du weißt, dass sie wegen dir den Balkon gesperrt haben und du weißt, dass wegen dir alle Fenster zugeschlossen worden sind. Du weißt, dass sie dich dazu überreden wollen, mehr über dich zu sprechen und mehr stimmungsberuhigende Medikamente zu nehmen. Zwei Wochen später serviert man dir Enttäuschung auf einem Tablett und die passende Medikation dazu. Du verkommst zu einem Schatten deiner Selbst und schreibst noch mehr Abschiedsbriefe, nein, neue Versionen davon. Du fühlst dich so responsiv wie eine Kartoffel. Trotzdem willst du nach Hause, denn du fühlst dich so langsam wie unschön geformter Blocksatz, aber du willst atmen, du musst atmen bei dir, in dir, du willst nicht mehr in unwirklichen Orten leben, die dich noch weiter von jeglicher Form von Realität entfernen, du willst Kontrolle wiedererlangen über deinen Alltag, über deine Beschäftigungsformen, du willst einen funktionierenden Internetzugang, du willst dich nicht fühlen wie eine Weggesperrte, denn das hast du jahrelang schon so getan, ja, hast du, dieses weggesperrt sein in einem drin, das ist womöglich noch grausamer als sagen zu müssen: ihr könnt mich in der Psychiatrie besuchen kommen. Dann kommen sie noch weniger.
Ein paar Tage später liegst du mit Nierenkolik und kurz vorm Nierenversagen in deinem eigenen Bett und bist eigentlich tot. Einige fürchten es, deshalb fragen sie sich durch nach einem Wort von dir, einem, das es gerade nicht geben kann, Andere erwarten es, deshalb sagen sie dir nichts mehr, kein Wort, mindestens seitdem. Wem könnte man es auch verdenken. Das Schuldgefühl treibt Blüten in dir, selbst bei Bewusstlosigkeit.
Katharsis.
Der Arzt sagt es, der Therapeut auch. Sie müssen mal raus hier. Die Nächte über kann ich nicht schlafen, meist weine ich oder fühle nichts. Dann schwemmt es mich zwischen den Hausfassaden vergangener Jahrhunderte in die Sonne. Fremde Menschen, die eine mir vertraute aber trotzdem unbekannte Sprache sprechen. Sie verstehen mich komplett, ich verstehe nur ein kleines bisschen von dem, was sie sagen. Durch sie und mich fließt nicht das gleiche Blut, doch die Folien schmelzen. Sie schauen mich an und auch wenn sie etwas an mir stören sollte: sie sehen nicht durch mich hindurch. Sie sehen in meine Augen, sie rempeln mich an, sie weichen mir nicht aus. Sie kraulen mir die Seele und sie lieben mich, mindestens für ein Wochenende lang und sie wissen von all dem Schmerz und der Angst und anstatt mich zu verlassen, drücken sie mir die Hand und sind Dünger für meine Innereien. Ich traue mich, sie vorbehaltlos zurück zu lieben.
Wieder zurück in der großen Stadt beginne ich, mich durch meinen Schmerz zu wühlen und arrangiere ihn, Stück für Stück, langsam, als hätten sich nur kleine Mosaiksteine in meinem Getriebe verirrt und ein paar Kratzspuren hinterlassen.
Ich treibe meine Kerben nach außen und beginne, öffentlich zu frieren, mich zu schütteln, hier und da meine Stimme zu verlieren. Da ist die Angst, sie lungert in jedem Schritt, mindestens aber in jedem ersten den ich tue, jeder Tag eine neue Angst, irgendwann aber ist deren Allgegenwärtigkeit die einzige Gewissheit. Nie wieder sich selbst kompromittieren aus Angst. Sie glauben an mich und kennen dabei nur die Stücke von mir, die ich ihnen gebe, die ich ihnen präsentiere, sie kennen nur meinen Dickicht, den in visueller Form, sie hören mich reden und zum ersten Mal seit ein paar Jahren beginnt meine Frischhaltefolie Andere mit mir zusammen einzuhüllen, zuzudecken, sanft, die Angst vor den Toren meiner inneren Stadt.
Der von mir errichtete, mich begrenzende Determinismus, das Bewusstsein um die Chemie meines Gehirns, die Angst vor den Menschen und die Enttäuschung durch manche, die dadurch gelebte Kunst. Und ich streiche über die Freiheit, die ich gefunden habe, die, die ich nicht kenne, die, vor der ich Angst habe. Denke zurück. Vielleicht war es einsam, vielleicht war es leicht. Ich kann mir vorstellen, dass es sehr traurig gewesen sein könnte und ich möchte dir über die Augen streichen oder über deine Hand – denn es gibt nichts schlimmeres als Ruinen in Körpern drin. Da spreche ich aus Erfahrung.
Dies ist Teil eines Text-Ping-Pongs. Mit anderen Worten: dies ist eine Antwort auf einen Text von Julien Nägele, auch bekannt als Ein Autor. Weitere Kollaborationen und eine Fortsetzung dieses Ping-Pongs sind nicht ausgeschlossen bzw mehr als nur wahrscheinlich. Bleiben Sie dran!